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Ein dringender Anruf


Ein nicht ganz gewöhnlicher Sonntag


Mit dem Mut der Verzweiflung


Nacht und Nebel


Schmetterlinge


Schwarz


Sonnenschein im Nebel


Von der Zukunft des Buches


und


Die Mauer


„Ihren Ausweis bitte!“ Der olivgrün Uniformierte blickte streng und dienstbeflissen auf sie herab. Stella kramte hastig in ihrer Handtasche, die auf dem Beifahrersitz des kleinen Wagens lag und reichte dem Beamten den Pass durch das halb offene Autofenster. Wie sie die Mauer hasste. Wie sie die deprimierende, tägliche Kontrolle am Grenzübergang hasste. Ob sie es wohl noch erleben würde, dass die Mauer wieder verschwand? Für sie ein nahezu unvorstellbarer Gedanke! Ihre Eltern konnten sich noch gut daran erinnern, wie sie gebaut wurde. Damals, als sie noch Kinder waren in Berlin.

  

Die Worte des Grenzers rissen sie aus ihren Gedanken.


„Ihr Sektorenschein fehlt. Den brauche ich auch. Das wissen Sie doch!“ Er beäugte sie kritisch und prüfte dann eingehend die kleine Karte, die sie ihm stumm nachgereicht hatte. Der Mann zog das glänzende  Plastik durch einen Scanner, und sogleich leuchtete eine rote Anzeige auf.


„Sie müssen ihre Berechtigung für ‚Westberlin’ bald verlängern lassen. Sie läuft am 30.09.2086 ab. Na, dann: Gute Einreise in den Süd-Sektor. Weiterfahren!“ Er drehte sich weg und wandte sich dem nächsten Fahrzeug zu, das in der Schlange auf die Durchfahrt wartete.

  

Stella startete den Motor ihres neuen Wasserstoff - betriebenen Zweisitzers und passierte im Schritttempo den Mauerübergang. Ein größeres Auto konnte sich heute wegen der Luxus-Zusatz-Steuer kaum noch jemand leisten. Aber die Innenstadt war ja ohnehin schon seit vielen Jahren ‚autofrei’, da man das Verkehrschaos anders nicht mehr bewältigt hatte. Und es gab seitdem ein noch dichteres Bahnen-Netz in der Stadtmitte, dass einen sowieso schneller ans Ziel brachte. Stella hatte darüber hinaus das Glück, von ihrem Arbeitgeber, der amerikanischen Großbank, der sämtliche Bankfilialen Berlins angehörten, eine Zugangsberechtigung für die Heliports zu bekommen, so dass sie oftmals den Berufsverkehr von oben betrachten konnte. Zielstrebig fuhr sie nun zu einem dieser Helikopter - Startplätze, um ihren Arbeitsweg verkürzen und dabei wieder einen morgendlichen Blick über die erwachende Großstadt werfen zu können.

  

Sie liebte den Blick auf die Skyline des Potsdamer Platzes, der immer mehr an das Manhattan der Jahrtausendwende erinnerte. Sie liebte auch den Blick auf das neue Guggenheim - Museum, das wie eine weiße Schnecke mitten auf dem Alexanderplatz ruhte. Sie genoss die Morgensonne, die sich in der Glaskuppel über dem Berliner Dom reflektierte, die man bereits vor zwanzig Jahren geschaffen hatte, um das Bauwerk vor weiteren Umweltschäden zu schützen; gegenüber auf dem Schlossplatz dann die beeindruckende Fassade des Berliner Stadtschlosses, das man originalgetreu wieder aufgebaut hatte. Nur die elektronisch gesicherte Mauer, die quer durch die Stadt verlief und lediglich den zentralen Teil der Stadtmitte aussparte, nämlich das ‚touristische Berlin’, zerstörte den Eindruck der perfekten Weltstadt.

  

Von ihrer Mutter wusste Stella, dass es eine lange Zeit zwischen den ‚Berliner Mauern’ gegeben hatte, in der man ohne eine Berechtigung oder ein Visum jeden beliebigen Stadtteil hatte aufsuchen können. Die erste Mauer hatte ‚das Volk’ Ende 1989 eingerissen, die zweite hatte abermals eine Regierung rund 50 Jahre später neu aufgebaut. Sie hatte das aber angeblich „zum Wohle des Volkes“ getan, da den Volksvertretern keine andere Lösung eingefallen war, um die zunehmenden Ausschreitungen und Gewalttaten in Berlin in den Griff zu bekommen. Zu groß waren die sozialen Unterschiede geworden;  zu groß der Hass auf alles, was fremd war, was anders war, was besser war. Das ließ die Emotionen aufschäumen.

  

Die neue Mauer hatte Berlin gevierteilt; so, als würde man ein Kreuz auf einen Stimmzettel machen. In Nordberlin, dem ‚Nord-Sektor’, wie er im Amtsdeutsch hieß, lebten alle ‚Nicht-EU-Mitglieder’, was in Wahrheit aus dem Viertel ein Ghetto gemacht hatte, in dem hauptsächlich türkische Mitbürger lebten, die dort ihr traditionelles Leben fernab der Heimat führten. Fanatismus und Gewalt waren dort stets an der Tagesordnung, was die Deutschen diesen Sektor meiden ließ.

  

Gewalt war ebenso ein Thema in Ostberlin, wohin man die „sozial schwachen“ Deutschen, also die Mittellosen, die Kleinverdiener und die Sozialhilfeempfänger verfrachtet hatte. Hier war auch viel Platz für die rechte Szene und den Ausländerhass, so dass auch dieses Viertel von der so genannten ‚Mittelschicht’ geflissentlich gemieden wurde. Beide Sektoren waren wirklich nicht das, was man unter der ‚Weltstadt’, dem ‚Vorzeige - Berlin’ verstanden hätte.

 

Ganz anders der ‚Süd-Sektor’, in dem auch das frühere Zehlendorf gelegen hatte. Hier bekamen nur die Besserverdienenden, die mindestens € 10.000,-- Haushaltseinkommen nachweisen konnten, ihren ‚Wohnraum’ zur Verfügung gestellt. In der Regel handelte es sich hierbei jedoch um luxuriöse Villen und Bungalows oder großzügig geschnittene Apartments. Man sollte hier ungestört und unter seines Gleichen das Leben genießen können.

  

‚Westberlin’ hingegen war zum Schmelztiegel geworden. Jeder, der in das Raster der anderen Stadtviertel nicht so recht gepasst hatte, lebte hier. Somit die breite Mittelschicht der ‚normal’ verdienenden Deutschen. Hier lebte auch Stella Wartenberg. Früher wohnte sie noch im Haus ihrer Eltern; seit einigen Jahren jedoch, seit sie erfolgreich als Investmentbankerin arbeitete, in ihrer eigenen schönen Wohnung mit Blick auf die Havel.

  

Das elektronische Signal für eine eingehende Nachricht holte Stella in die Gegenwart zurück. Sie berührte eine unscheinbare Schaltfläche auf dem eingebauten Display, und auf dem kleinen Bildschirm im Armaturenbrett vor ihr erschien das vertraute Gesicht von Tom.


„Hallo Darling! Hast du gut geschlafen? Du bist wohl schon auf dem Weg zur Arbeit?!“ Mit einem verschlafenen Blick strich sich der attraktive Anrufer eine eigenwillige dunkle Haarsträhne aus der Stirn und nahm einen Schluck von dem dampfenden Getränk, dass vor ihm auf dem Tresen stand.


Stella hatte den jungenhaften New Yorker bei einer Konferenzschaltung der Mieter ihrer Wohnanlage kennen gelernt. Er war ihr durch seinen leichten Akzent und die intelligenten Lösungsvorschläge zu banalen Problemen sofort aufgefallen. Kurz darauf waren sie sich zufällig in der hauseigenen Coffee - Bar wieder begegnet und dann ziemlich schnell ein Paar geworden. Das war jetzt fast ein Jahr her, und da beide in den oberen Etagen desselben Hochhauses wohnten, war das Zusammenziehen für sie kein Thema. Sie brauchten nur in den gläsernen Außenfahrstuhl einzusteigen und waren mühelos im Apartment des anderen.

  

„Guten Morgen, Tommy! Wie schön, deine Stimme zu hören! Wolltest du heute nicht ganz früh an die Uni, um an eurem Projekt weiter zu arbeiten?“ Stella sah den Heliport vor sich und hielt an der Schranke an, um ihren Namen zu nennen. Die Stimmerkennung funktionierte ohne Probleme, und sie fuhr weiter auf das Parkdeck hinauf.

„Ja. Ich, äh, werde zu Hause erst noch etwas für den neuen Mikrochip vorbereiten. Sehen wir uns heute Abend? Ich wollte dir etwas sagen.“


„Was denn? Hoffentlich etwas Schönes. Ja gut, dann komm doch gegen acht zu mir rauf. Ich koche mal wieder selbst für uns.  Sonst verlerne ich es noch völlig. Im Ticker der ‚Morgen - News’ stand, dass man wieder Fleisch zu kaufen kriegt. Also, dann bis heute Abend. Ich muss jetzt los. Ich liebe dich.“ Sie berührte leicht den Bildschirm, und ihr Gegenüber war verschwunden. Tief durchatmend stieg sie aus und fuhr mit dem Lift zu Gate 3 hinauf.

  

Eine Viertelstunde später, als sie gerade an ihrem Schreibtisch Platz genommen hatte, um die täglichen Mails ihrer Kunden zu überfliegen, erschien, begleitet von einem kurzen Signal -Ton, das Gesicht ihres Vorgesetzten auf dem Bildschirm.


„Mein Sonnenschein ist doch schon da! Guten Morgen. Ich habe wunderbare Nachrichten für Sie, Stella.“


„Guten Morgen, Dr. Fischer. Haben wir etwa ‚Daimler -BMW’ als ‚Business Client’ gewonnen? Ist die Sache endlich unter Dach und Fach?“ Ihr wurde schlagartig heiß, und sie spürte Nervosität in sich aufsteigen.


„Ja, das ist sie. Aber das ist nur eine der guten Nachrichten. Für Ihr besonderes Engagement hat die Konzernleitung eine außerordentliche Gehaltserhöhung bewilligt. Ich sage nur: Süd-Sektor !!! Kommen Sie nachher mal bei mir vorbei. Also: Herzlichen Glückwunsch, Mädchen!“ Der Bildschirm war wieder schwarz.

  

Ihr wurde augenblicklich übel. So sehr, dass sie fürchtete, sich übergeben zu müssen. Wenn man ihr nun eine Wohnung in Südberlin zuwies, würde sie Tom nur noch selten sehen können. Nämlich dann, wenn sie ihr ‚berechtigtes Interesse’ für den West-Sektor nachweisen konnte, und was hätte es schon für wichtige Gründe geben können, bei einem unverheirateten Paar verschiedener Nationalitäten!


Sie berührte das im Schreibtisch eingelassene Display und hörte kurz darauf die erwartete Stimme durch den Chip, der in ihrem Ohr steckte:


„Winter. Was kann ich für Sie tun, Frau Wartenberg?“


„Hallo, Frau Winter! Richten Sie Dr. Fischer doch bitte aus, dass ich mir für den Rest des Tages frei nehme. Ich habe noch einen dringenden Termin.“ Stella legte das Headset auf den Acryltisch. An der Tür überprüfte ein grüner Laserstrahl ihre Augen, und sie verließ das imposante Gebäude, in dessen gläserner Fassade sich die Umrisse des hunderte von Stockwerken hohen ‚German Tower’ am Pariser Platz widerspiegelten.


Die junge Frau musste jetzt allein sein, um die unzähligen Gedanken ordnen zu können, die in ihrem Kopf umher schwirrten.

 

„Hallo, Sweetheart! Bin ich noch zu früh dran oder lässt du mich schon rein, in deine ‚Versuchsküche’?“ Tom gab ihr einen flüchtigen Kuss auf die Nasenspitze und schob sich an ihr vorbei in das große Zimmer, durch dessen verglaste Front man einen beeindruckenden Ausblick auf die vielen zeitgemäßen Schiffe hatte, die auf der speziell für sie ausgebauten Wasserstraße fuhren. Aus der offenen Wohnküche drangen aber keine verlockenden Düfte, und nicht einmal die Schachteln eines Lieferservices waren zu entdecken. Doch das fiel Tom nicht einmal auf. Er ließ sich auf einen der Ledersessel fallen, und sein Gesichtsausdruck veränderte sich auf der Stelle.


„Ich weiß nicht, wie ich es dir sagen soll. Ich arbeite nicht mehr an dem Implantat. Seit sie die drei Unis zusammengelegt haben zur ‚Albert-Einstein-Universität’, sind viele Fördermittel auf der Strecke geblieben. Es gibt niemanden mehr, der das Projekt finanzieren will. Und darum bin ich auch auf der Strecke geblieben. Man hat mir und den anderen zum Monatsende gekündigt. Und da der Senator für Sektoren - und Transferwesen davon eine Abschrift bekommen musste, hatten die nichts besseres zu tun, als mir sofort eine Wohnung im Nord - Sektor zuzuweisen. Aber da kriegen die mich nicht hin! Niemals! Ich weiß jetzt nicht mehr weiter, darum muss ich wohl in die Staaten zurückgehen. Denn hier werde ich bestimmt nichts anderes mehr finden. Du weißt doch: Wer seine Arbeit erst mal los ist, bleibt auch ohne. So ist das nun mal. Zum 30. August muss ich schon ausziehen.“ Er hatte den Kopf gesenkt und spielte mit einem Stift zwischen seinen Fingern.

  

„Wie lange weißt du es schon? Und warum hast du mir nicht schon früher davon erzählt?“ Sie war wie erstarrt. Das alles konnte doch nur ein böser Traum sein.


„Ich wollte dich nicht beunruhigen, solange es nicht endgültig war. Aber das ist es nun: endgültig.“


Stella holte tief Luft und bemerkte dann leise: „Endgültig muss diese Entscheidung noch nicht sein.“ Sie schluckte und fuhr dann langsam fort:


„Ich bin nicht bereit, mir das Leben von dieser verdammten ‚Mauer’ zerstören zu lassen! Früher haben die Menschen doch auch alles daran gesetzt, trotz der Mauer ein glückliches Leben zu führen. Und genau das will ich mit dir auch tun.“


Die junge Frau signalisierte ihrem Gegenüber, sie nicht zu unterbrechen.


„Ich wollte dir heute auch etwas wichtiges mitteilen. Nämlich...“, Tränen liefen ihr über das Gesicht. Sie schluckte abermals.


„...Nämlich, dass ich befördert worden bin! Und dass ich hier auch raus muss! Nur, dass ich nach Südberlin ziehen soll! Das ist doch ein echter Grund zum Freuen, oder? Du ohne Arbeit in einer Hinterhofwohnung und ich im voll automatisierten Loft mit Blick auf den Schlachtensee!“

  

Tom stand auf, um Stella die Tränen vorsichtig abzuwischen, die ihr nun unaufhörlich über das Gesicht rannen.


„Ich liebe dich von Herzen, mein Schatz. Und daran wird sich auch nie etwas ändern“, sagte er zärtlich zu ihr.


„Ich bin froh, dass du das sagst. Du weißt, ich liebe dich ebenfalls. So sehr, dass ich mir ein Leben ohne dich nicht vorstellen kann und will.“


Stella glitt von ihrem Platz und kniete nun vor ihm auf dem Teppich. Durch eine unmerkliche Berührung der Wand wurde die Beleuchtung gedämpfter, und auf einem großen Wandschirm sah man plötzlich ein Kaminfeuer lodern. Aus unsichtbaren Lautsprechern erklang leise klassische Musik. Tom blickte sie verwundert an.


„Ich möchte nur für eine passende Atmosphäre sorgen“, bemerkte sie zaghaft lächelnd. Sie hielt nun liebevoll seine Hände und blickte ihm tief in die Augen.


„Tom Hamilton, willst du die hier kniende, ich meine: anwesende ..., Stella Wartenberg zu deiner Frau nehmen; mit ihr zusammen mindestens € 12.000,-- Einkommen im Monat haben; mit ihr glücklich und zufrieden in Südberlin leben und sie wahnsinnig lieben und mit ihr zum Mond und zu den Sternen fliegen, bis dass der Tod uns scheidet? So antworte mit...“


Weiter kam sie nicht, denn Tom riss sie zu Boden und bedeckte ihr Gesicht mit Küssen.


„Ja, ja, ja! All’ das will ich, Sweetheart! Ich hätte mich bloß nie getraut, dich das zu fragen. Das wird unser Weg sein, die ‚Mauer’ einzureißen. Und vielleicht kann ich ja, während du Karriere machst, zu Hause unsere Babys betreuen. Dann habe ich auch wieder einen Fulltimejob!“

 

Er schmunzelte liebevoll über ihren erstaunten Blick, um sie dann wieder zärtlich in die Arme zu schließen.